28.02.2021 2. Sonntag der Passionszeit – Reminiscere

28.02.2021 2. Sonntag der Passionszeit – Reminiscere



Predigt: Jesaja 5:1-7 LÜ
1 Wohlan, ich will von meinem lieben Freunde singen, ein Lied von meinem Freund und seinem Weinberg. Mein Freund hatte einen Weinberg auf einer fetten Höhe. 2 Und er grub ihn um und entsteinte ihn und pflanzte darin edle Reben. Er baute auch einen Turm darin und grub eine Kelter und wartete darauf, dass er gute Trauben brächte; aber er brachte schlechte. 3 Nun richtet, ihr Bürger zu Jerusalem und ihr Männer Judas, zwischen mir und meinem Weinberg! 4 Was sollte man noch mehr tun an meinem Weinberg, das ich nicht getan habe an ihm? Warum hat er denn schlechte Trauben gebracht, während ich darauf wartete, dass er gute brächte? 5 Wohlan, ich will euch zeigen, was ich mit meinem Weinberg tun will! Sein Zaun soll weggenommen werden, dass er kahl gefressen werde, und seine Mauer soll eingerissen werden, dass er zertreten werde. 6 Ich will ihn wüst liegen lassen, dass er nicht beschnitten noch gehackt werde, sondern Disteln und Dornen darauf wachsen, und will den Wolken gebieten, dass sie nicht darauf regnen. 7 Des HERRN Zebaoth Weinberg aber ist das Haus Israel und die Männer Judas seine Pflanzung, an der sein Herz hing. Er wartete auf Rechtsspruch, siehe, da war Rechtsbruch, auf Gerechtigkeit, siehe, da war Geschrei über Schlechtigkeit.


Liebe Mitchristinnen und Mitchristen!

Ich gehe so gerne über den Viktualienmarkt in München. Ich finde, dort herrscht eine so wunderbare Atmosphäre. Das ist etwas für alle Sinne. Da umgeben mich so verlockende Düfte. Da entdecke ich so viele Köstlichkeiten. Da höre ich die Gespräche der Menschen, die Rufe der Verkäufer. Und am liebsten würde ich auch immer wieder groß einkaufen gehen. Ob Käse oder Fleisch- und Wurstwaren, Fisch oder leckere Cremes als Aufstrich auf das Brot, ob Wein oder Brot, ob Honig oder Obst und Gemüse, ganz egal, es gibt so viel, dass ich es ohnehin gar nicht alles auf einmal zu mir nehmen könnte. Aber das Flair dieses Marktes ist so beeindruckend schön. Und manchmal gibt es auch noch einen anderen Akzent, etwas Musik, die für viele Menschen diese kulinarischen Aspekte noch unterstreicht.

So etwa stelle ich es mir auch vor zur Zeit des Propheten Jesaja. Da sind die Menschen wohl auch unterwegs gewesen, um die Dinge des Alltags zu besorgen. Auf dem Markt finden sie zusammen. Sie hören die Rufe der Verkäufer. Sie nehmen die angenehmen Düfte mit ihrer Nase auf. Und sie sehen das vielfältige Angebot. Wie auf unserem Viktualienmarkt in München konnte man damals auch Wein kaufen. Und Wein war für die Menschen gleichbedeutend mit Lebensfreude und Lockerheit. Wein steht für Gemeinschaft und gute Zeit. Und manch einer war damals sachkundig, wusste genau, wie das ist mit dem Weinbau, was man da alles benötigt und wie das am besten gelingt. Und da taucht nun dieser Prophet auf. Er stellt sich mitten auf den Marktplatz und fängt an zu singen. Und das scheint ein schönes Lied zu werden. Es geht über einen, der einen Weinberg besitzt. Ein Weinberglied wird dort gesungen. Und viele fühlen sich da gleich angesprochen. Es war ihre Sprache. Ja, so macht man das, wenn man einen Weinberg besitzt. Dieses Lied besingt unsere Welt. Und so können in unseren Tagen vermutlich auch die Leute aus den Weingegenden entsprechend mitreden. Ja, wer mit Weinbau beschäftigt ist, fühlt sich gleich in seinem Metier. Da werden damals viele Menschen kundig genickt haben. Ja, so ist es. Dieses Lied ist unser Leben. Und wer fühlt sich da nicht angesprochen, wenn die eigene Leidenschaft berührt wird. So stelle ich mir diesen Sänger mittlerweile von zahlreichen Menschen umringt vor, Menschen, die gespannt lauschen und so richtig erfreut sind.

Doch da plötzlich kippt das Lied. Mit einem Mal bekommt das Lied einen Bruch. Die wunderschöne, heile Welt des Weinbaus erfährt einen Knick. „Was singt der da? Wovon erzählt der?“ Die Leute trauen ihren Ohren nicht. Das war doch eben gerade noch alles in Ordnung. Und jetzt? Jetzt singt der von stinkender Fäulnis. Das gibt es doch nicht! Das verdirbt einem den ganzen Geschmack.

Und in der Tat: Ich stelle mir vor, ich gehe über den Viktualienmarkt und will mich an all dem, was es dort gibt, erfreuen. Und dann erzählt mir jemand die ganze Zeit: Der Fisch ist nicht mehr frisch. Der liegt schon Tage in der Auslage und beginnt schon zu stinken. Das Brot ist von gestern. Der Käse trägt schon Schimmel. Das Obst ist schon am Faulen. Das Gemüse liegt ganz welk da. Und der Wein! Darüber lasst uns lieber nicht reden. Der ist gepanscht. Der ist schon hinüber. Ich muss mich daran erinnern, dass ich vor vielen Jahren einmal ein Weinseminar belegt habe. An einem Abend ging es nur um verdorbene Weine. Und die hatten es wirklich in sich. Ungenießbar! Ich kann mir lebhaft vorstellen, was die Leute bei Jesaja gedacht habe. Stinkende Fäulnis! So ein Wein ist absolut nichts. Da ist die Stimmung im Keller. Das wollen wir nicht.

Vielleicht beginnen sich die Ersten bereits abzuwenden. „Lass gut sein! Das Lied will ich nicht weiter hören.“ Andere trauen ihren Ohren nicht. Das hatte doch so gut begonnen. Aber nun setzt dieser Prophet noch eins drauf. Da ist nicht nur von dieser Verderbtheit die Rede. Da kippt die Situation nun vollends. Das, was der Weinbergbesitzer sich alles so liebevoll und sorgsam aufgebaut hatte, das wird nun wieder zerstört. Mit aller Radikalität wird der Weinberg platt gemacht. Und das wir nun wirklich unerträglich. Ich will ein schönes Lied hören. Ja, gerne ein Lied vom Weinberg. Aber doch nicht so ein Lied voll Zerstörungswut. Die Stimmung ist gekippt.

Aber vermutlich hat manch einer auch begriffen, worum es in diesem Lied geht. Und das lässt innehalten. Vielleicht waren manche wirklich betroffen. Andere waren dagegen eher verärgert und begehrten auf. Aber: Worum geht es hier? Für diejenigen, die zuhörten, war es damals klar: Der Weinberg ist ein Bild für das Volk Israel. Und der Weinbergbesitzer ist Gott. Und die Menschen verstanden: Wir sind diejenigen, die so nach Fäulnis stinken. Wir sind in diesem Lied diejenigen, die keine gute Frucht hervorbringen. Dabei hatte Gott alles so gut angelegt, so hervorragend gestaltet und für alles gesorgt. Er hatte sich so sehr gesorgt. Eigentlich müsste doch beste Qualität hervorkommen. Das war den Leuten einsichtig gewesen. Doch das Gegenteil war der Fall.

Und die Botschaft des Liedes trifft nicht nur das Volk Israel, sondern in anderer Zeit auch uns. Und das sollte uns nachdenklich werden lassen. Wie ist das mit uns, unserem Leben? Was machen wir daraus? Bringen wir gute Frucht? Dient unser Leben dazu, dass sich die Zuwendung und Liebe Gottes, die wir erfahren, auch ausbreiten kann, dass Menschen spüren, sie sind angenommen und geliebt? In der Tat gilt es, sich zu fragen: Wie steht es um uns? Bringen wir nicht auch immer wieder Fäulnis hervor? Vielleicht sehen wir es gar nicht so? Vielleicht haben wir sogar den Eindruck, wir bekommen unser Leben hervorragend und erfolgreich hin. Doch sehen das andere auch so? Denken wir nur an uns selber, wie wir gut zurechtkommen, doch unsere Mitmenschen und Gott verlieren wir aus dem Blick?

Ja, das mag sein. Aber Gott ist doch ein lieber Gott. Er wird es uns doch verzeihen. Das ist doch alles nicht so schlimm. So mag sich manch einer beruhigen.
Nur: Da sind so radikale Worte. Und da wird uns Gott in einer Art und Weise dargestellt, da müssen wir erst einmal schlucken. Kann das Gott sein? Kann das unser Gott sein, den wir als liebevollen Gott vor Augen haben? Was uns hier geschildert wird, das ist ein  jähzorniger Dreinschläger, ein Zerstörer, dem es an jeglicher Liebe fehlt. Gut, mag sein, dass er enttäuscht worden ist, dass er darüber traurig ist. Aber kann ich mir Gott so vorstellen? Ist das mein Bild von Gott? Ist Gott ein verschmähter Liebhaber, der nun aus lauter Frust seine Launen rauslässt und alles kurz und klein macht? Kann ich mir Gott so gnadenlos vorstellen? Passt das zu meinem Bild von Gott?

Ich gebe zu: So mag ich mir Gott nicht vorstellen. Das erschreckt mich und verstört mich zutiefst. So etwas würde ich eher von einem enttäuschten Menschen erwarten. Ja, da kennen wir das. Manche Menschen müssen einfach ihren Frust rauslassen und Dampf ablassen. Das ist menschlich. Aber doch nicht göttlich?

Ich muss einsehen: Es ist nun einmal so beschrieben. Es steht so in der Bibel, auch wenn ich mir Gott so nicht vorstelle, so, wie ein abgelehnter Liebhaber. Dabei fasziniert mich die sprachliche Gewandtheit, in der uns gezeigt wird, was hier geschehen ist. Luther hat gekonnt das hebräische Wortspiel des Originals aufgegriffen: „Er wartete auf Rechtsspruch, siehe, da war Rechtsbruch, auf Gerechtigkeit, siehe, da war Geschrei über Schlechtigkeit.“ Gottes Erwartungen sind enttäuscht worden. Rechtsspruch und Gerechtigkeit, das sind auch heute die Wünsche vieler Menschen auf dieser Welt, vor allem dort, wo das Recht mit Füßen getreten wird. Die Frucht der Menschen, die auch wir in dieser Welt oft vorfinden, ist eben Rechtsbruch und Schlechtigkeit. Ja, das müssen wir zugeben und eingestehen. Da genügt oft schon ein  Blick in die Nachrichten. Und manchmal auch ein ehrlicher Blick auf uns selbst.

Doch was bedeutet das nun? Was macht das mit uns? Ist nun alles aus? Können wir aufgeben? Wenn Gott wie dieser Weinbergbesitzer dreinschlägt, dann gibt es keine Zukunft, dann können wir einpacken, dann ist alles aus und vorbei. In der Tat endet das Weinberglied für den Moment so perspektivlos. Und das ist frustrierend.

Aber gibt es da vielleicht doch noch einen kleinen Hoffnungsschimmer. Ja, er haut schon heftig rein, dieser Gott. Aber liegt darin nicht auch noch eine andere Seite. Wenn ihm alles so egal wäre, dann bräuchte er doch gar nichts mehr zu tun. Kommt in seinem zerstörerischen Handeln nicht auch so etwas wie Leidenschaft zum Ausdruck? Könnte da vielleicht doch noch etwas hervorschimmern, was Hoffnung macht? Es bleibt schwer erkennbar, welche Gefühle sich in diesem Moment im Herzen Gottes breit machen.

Aber, wenn wir weiterlesen, dann landen wir bei den Verheißungen auf Weihnachten. „Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht“, „Uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ist auf seiner Schulter“ und „Es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen.“ Da ist sie wieder, die Frucht! Es wird sie doch noch geben, sagen diese Verheißungen. Und für uns Christinnen und Christen sind diese Verheißungen erfüllt in Jesus. Hier liegt unsere Hoffnung, dass Gottes Geschichte mit uns Menschen doch nicht zu Ende ist. Auch wenn sein Weg, vor allem seine Passion, ein Ausdruck der erneuten Ablehnung von Menschen gewesen ist und aufzeigt, welche Fäulnis Menschen hervorbringen können, so ist das totale Aus nicht das letzte Wort. Im Aufblick auf die Botschaft von Ostern haben wir Hoffnung, dürfen wir wissen, das nicht das letzte Wort gesprochen ist. Im Vertrauen auf den, der den Weg von uns Menschen gegangen ist, der aber die Macht des Todes besiegt hat, dürfen wir Zuversicht und Hoffnung haben. Er hat durch seine bedingungslose Hingabe Frucht gebracht. Er lässt uns daran teilhaben. Sichtbar wird das im Abendmahl. Die Frucht des Weinstocks zeigt uns, dass wir Anteil am neuen Leben haben dürfen. Die Fäulnis hat keine Zukunft. Deshalb: „Lasset uns mit Jesus ziehen, seinem Vorbild wandeln nach.“ Der Weg mit Jesus ist nicht immer einfach. Er führt auch durch die Niederungen des Lebens. Aber am Ende steht die Frucht des Lebens. So lasst uns mit einstimmen in das Weinberglied, aber Frucht bringen, dass diese Welt nicht so sehr nach Fäulnis stinkt, sondern fröhlich aufblicken kann.

Ihr Pfarrer Carsten Klingenberg