24.12.2020 Heiliger Abend Christvesper

 24.12.2020 Heiliger Abend – Christvesper        

 

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Predigt: Jesaja 11:1-10

1 Und es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen. 2 Auf ihm wird ruhen der Geist des HERRN, der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des HERRN. 3 Und Wohlgefallen wird er haben an  der Furcht des HERRN. Er wird nicht richten nach dem, was seine Augen sehen, noch Urteil sprechen nach dem, was seine Ohren hören, 4 sondern wird mit  Gerechtigkeit richten die Armen und rechtes Urteil sprechen den Elenden im Lande, und er wird mit dem Stabe seines Mundes den Gewalttätigen schlagen und mit dem Odem seiner Lippen den Gottlosen töten. 5 Gerechtigkeit wird der Gurt seiner Lenden sein und die Treue der Gurt seiner Hüften. 6 Da wird der Wolf beim Lamm wohnen und der Panther beim Böcklein lagern. Kalb und Löwe werden miteinander grasen, und ein kleiner Knabe wird sie leiten. 7 Kuh und Bärin werden zusammen weiden, ihre Jungen beieinanderliegen, und der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind. 8 Und ein Säugling wird spielen am Loch der Otter, und ein kleines Kind wird seine Hand ausstrecken zur Höhle der Natter. 9 Man wird weder Bosheit noch Schaden tun auf meinem ganzen heiligen Berge; denn das Land ist voll Erkenntnis des HERRN, wie Wasser das Meer bedeckt. 10 Und es wird geschehen zu der Zeit, dass die Wurzel Isais dasteht als Zeichen für die Völker. Nach ihm werden die Völker fragen, und die Stätte, da er wohnt, wird herrlich sein.

Liebe weihnachtliche Mitchristinnen und Mitchristen,

nun stehen sie wieder überall, die Christbäume. Festlich geschmückt erfüllen sie mit ihrer Atmosphäre den Raum. Ihr Lichter brennen und vermitteln uns in dieser so dunklen und kalten Jahreszeit eine besondere Wärme und Geborgenheit.

Doch nüchtern betrachtet wurden die meisten Christbäume vor einiger Zeit geschlagen und somit ihr Leben beendet. Da, wo sie einst standen, da ist nun lediglich ein Baumstumpf.

Ich muss an die Baumfällarbeiten in den letzten Wochen in der Isarau bei Ismaning denken. Da wurden zum Teil sehr große prächtige Bäume gefällt. Gut, sie waren krank. Aber es war schon bemerkenswert, den einen oder anderen Baum plötzlich den Hang hinunterstürzen zu sehen. Mit einem lauten Krachen schlugen die Bäume am Boden auf und hinterließen zudem eine Spur der Verwüstung. Auch hier blieben lediglich die Baumstümpfe. So unmittelbar nach der Fällung ist das innere Holz noch recht hell. Aber blicken wir auf die Baumstümpfe der Bäume, die ein Jahr zuvor gefällt wurden, so sehen wir sehr deutlich, wie die Fasern des Holzes ausgetrocknet und leblos geworden sind.

An dieses Bild denkt auch der Prophet Jesaja mit seinen Worten. Lediglich ein vertrockneter Baumstumpf ist vom Volk Gottes übrig geblieben. Das babylonische Exil, die Deportation und der Frondienst haben die Menschen ausgetrocknet. Da ist nichts mehr, was man Leben nennen kann. Frust und Resignation, Depression und Perspektivlosigkeit prägen den Alltag. Alles, was früher war, ist aus und vorbei. Die Katastrophe der Niederlage gegen die Babylonier wiegt schwer. Wie soll es weitergehen? Gibt es noch Hoffnung? Gibt es noch eine Zukunft? Derzeit sieht es nicht so aus.

Und wir? Wir feiern auch in diesem Jahr Weihnachten. Doch das ist nicht mehr dasselbe wie in den vergangenen Jahren. Da tauchte plötzlich ein Virus auf und hat unser aller Leben durchkreuzt. Lockdown ist das neue Schlagwort. Alles muss stillstehen. Kann das überhaupt sein? Geht da nicht unsere Wirtschaft den Bach hinunter? Werden wir nicht alle ganz kirre, wenn wir nicht mehr wie früher Kontakte pflegen dürfen? Ständig mit Maske herumlaufen! – und wenn das unsere Schulkinder schon erleben müssen! Was ist das für eine Kindheit und Jugend! Und was ist mit unserer Freiheit? Habe ich nicht ein Recht auf Selbstbestimmung? So fragen sich viele. Und manch einer findet das schon wie Sklaverei. Ist das noch ein Leben? Ja, ist das noch ein Weihnachten, wenn wir nicht mehr so wie früher feiern können?

Wie wird es weitergehen? So fragen sich in diesen Tagen viele. Ist jetzt alles aus? Gibt es noch eine Perspektive?

Wenn in unserem Leben etwas zu Bruch geht, wenn die vertrauten Pfade nicht mehr gegangen werden können, wenn alles Liebgewonnene uns zwischen den Händen verrinnt, dann sehen wir oft nur noch den vertrockneten Baumstumpf. Es ist aus mit der Pracht und der Vitalität.

Doch der Prophet will heute unser Augenmerk auf etwas anderes richten. Er ermutigt uns, nicht auf das Zerbrochene zu schauen. Er richtet unseren Blick vielmehr auf etwas ganz Unscheinbares. Immer wieder kann man es beobachten: Am Rande eines Baumstumpfes sprießt mitunter neues Leben hervor. Mag es anfangs nur ein kleiner Trieb sein, so steckt hier doch viel Kraft und Leben drin. Sein Saft sind die sieben Gaben des Heiligen Geistes. Zu den bei Jesaja erwähnten sechs Gaben Weisheit und Verstand, Rat und Stärke, Erkenntnis und Gottesfurcht gesellte sich später noch die Frömmigkeit hinzu. Alle sieben Gaben sind Ausdruck eines neuen, vitalen Lebens. Alle sieben Gaben eröffnen den Blick nach vorne. Und diese Zukunft liegt in dem kleinen Trieb, der verheißen ist.

Gott wirkt! Er wirkt immer wieder und auch mitten unter uns! Aber das Geheimnis Gottes ist, dass er nicht mit großem Protz und mit Macht kommt, sondern gerade ganz unten beginnt, dort wo alles ganz arm und schwach aussieht. Und damit befinden wir uns mitten im weihnachtlichen Geschehen, mitten im Stall von Bethlehem. Dort, in der Armut und Schwachheit, in der Hilfsbedürftigkeit und Abgeschiedenheit, dort beginn das neue Leben. Der kleine Knabe, von dem Jesaja spricht, der neue Trieb, der aus dem Baumstumpf hervorsprießt, der wird das Leben verändern, der wird eine neue Zukunft eröffnen. Gott möchte die Resignation der Menschen verwandeln. Er möchte das Leben neu aufblühen lassen. Seine Liebe zu den Armen, den Schwachen, den Bedürftigen ist der Beginn der neuen Gerechtigkeit, eines neuen Lebens in Frieden.

Und so werden wir noch einmal zur Krippe geführt. Und da dürfen wir auch ganz besonders unsere Krippen in den Kirchen und in den Häusern anschauen. Neben den Menschen finden sich dort auch die Tiere. Ochs und Esel sind gesetzt. Diese hat auch schon Jesaja verheißen. Aber oft sind da noch mehr Tiere: die Schafe der Hirten und manchmal auch ein Hirtenhund. So sind uns die weihnachtlichen Krippen vertraut. Mitunter finden wir auch die Kamele, die die Weisen aus dem Morgenland herbeigebracht haben. Aber die Tiere, von denen Jesaja uns heute berichtet können wir nicht finden. Diese Tiere scheinen auch nicht so recht zusammenzupassen: Wolf und Lamm, Panther und Böcklein, Kalb und Löwe, Kuh und Bärin und dann noch die Schlangen. Das klingt eher nach Mord und Todschlag. Das wird nicht lange friedlich zugehen können. So denken wir zumindest. Und diese Tiere können wir auch auf uns Menschen beziehen. Wir sind so unterschiedliche Wesen. Da gibt es die ruhigeren, die friedfertigen, aber auch die aufbrausenden und massiv auftrumpfenden Menschen. Und jeder hat so seine Interessen. Und immer wieder kommt es zu Interessenkonflikten, Streitigkeiten, Ungerechtigkeiten und Krieg. Der Krieg ist der Vater aller Armut. Und so leiden so viele Menschen, wo immer es Konflikte gibt.

Der neue Trieb, der kleine Knabe, der Kalb und Löwe miteinander weiden lässt, der setzt ganz neue Akzente. Er verändert diese Welt. Er ist der Friedefürst, der Immanuel, der Gott mit uns. Wo er ist und sein wird, dort hat die Ungerechtigkeit keinen Platz mehr. Dort können Wolf und Lamm, Panther und Böcklein, Kalb und Löwe, Kuh und Bärin, die Schlangen und ein Baby zusammen sein und es wird Frieden herrschen. Da wird der Löwe zum Vegetarier, weil er die Nähe des Rindes schätzt.

Der neue Trieb ist Zeichen für alle Welt, dass es ein anderes Leben geben kann, ein Leben ohne Kampf und Streit, ohne Leid und Nöte. Gott ist zu uns gekommen, in unsere Welt, damit wir Frieden haben.

Doch, was ist aus dieser Verheißung geworden? Ist unsere Realität nicht eine ganz andere? Sehen wir nicht in den Nachrichten, wie es in dieser Welt zugeht? Ist nicht der Baum radikal abgehauen? Leben wir nicht unter diesen Bedingungen und müssen manches erleiden und erdulden?

Wir blicken schon wieder nur auf die so groß erscheinenden Schrecken dieser Welt. Jesaja lehrt uns auf das Kleine zu achten. Und da schauen wir heute in den Stall von Bethlehem. Das ist keine Kulisse. Das ist kein Theaterstück, dass wir uns so anschauen und am Ende ein wenig beklatschen. Hier geht es vielmehr um uns, um Dich und mich. Hier ist unser Leben. Das neue Leben ist gekommen. Deshalb will der Christbaum uns auch ein Zeichen sein: Wir Menschen haben den alten Baum im Paradies verspielt, aber in Christus haben wir den neuen Baum des Lebens. Und er möchte mit uns anfangen. Ja, vieles in dieser Welt liegt im Argen. Die Veränderung beginnt ganz klein, als ein kleiner Trieb, bei uns, in unserem Herzen. Wenn wir die Zuschauerrolle verlassen und uns mitnehmen lassen in den Stall, in die Armut und Bedürftigkeit, dann erkennen wir, dass wir gefragt sind. Gott braucht uns. Er möchte mit uns seine neue Welt bauen. Deshalb trau Dich heraus aus dem Graben Deiner Ängste und Sorgen, Deiner Verschlossenheit und Eigensicht. Schau die kleine Pflanze der Liebe Gottes an, lass ihn in Dein Herz einziehen und mach Dich auf, werde licht und lass es um Dich Licht werden. Strahle aus, was die Liebe Gottes ausmacht. So kann mitten unter uns dieser kleine Trieb weiter wachsen.

Mitten unter uns, mitten in dieser Welt geschieht immer wieder neu ein Stück Weihnachten, wo Menschen den Trubel des Alltages verlassen und sich zum Stall aufmachen und sich von dem kleinen Kind verwandeln lassen. Wie die Hirten vom Stall lobend und bezeugend weggingen, so lasst uns leben, was das Zeichen der Wurzel bei Jesaja dieser Welt bringen möchte, den göttlichen Frieden für uns und für alle.

Ihr Pfarrer Carsten Klingenberg