21.03.2021 5. Sonntag der Passionszeit - Judica

21.03.2021 5. Sonntag der Passionszeit - Judica



Predigt: Hiob 19:19-27 HFA

19 Meine engsten Freunde verabscheuen mich jetzt; sie, die mir am nächsten standen, lehnen mich ab! 20 Und ich? Ich bin nur noch Haut und Knochen, bin mit knapper Not dem Tod entkommen. 21 Barmherzigkeit! Habt Mitleid, meine Freunde! Gottes Hand hat mich geschlagen! 22 Warum verfolgt ihr mich, wie Gott es tut? Habt ihr mich nicht schon genug gequält? 23-24 Ach, würden doch meine Worte in einer Inschrift festgehalten, in Stein gemeißelt und mit Blei noch ausgegossen, lesbar für alle Zeiten! 25 Doch eines weiß ich: Mein Erlöser lebt; auf dieser todgeweihten Erde spricht er das letzte Wort! 26 Auch wenn meine Haut in Fetzen an mir hängt und mein Leib zerfressen ist, werde ich doch Gott sehen! 27 Ja, ihn werde ich anschauen; mit eigenen Augen werde ich ihn sehen, aber nicht als Fremden. Danach sehne ich mich von ganzem Herzen!

Liebe Mitchristinnen und Mitchristen!

Es gibt Momente, in denen wir den Atem anhalten. Da verstummen wir. Da ereignen sich Dinge, die einfach nicht zu fassen sind. Da sind wir geschockt. Denn mit diesen Ereignissen verbindet sich so viel Leid, so viel Schmerz, so viel Tragisches. Und mit einem Mal ist das Leben nicht mehr so, wie es einmal war. Da bricht eine Welt zusammen. Und es bleibt nur die Frage: Wie kann es überhaupt weitergehen?

Geschichten gibt es da viele. Geschichten, die einfach nur sprachlos machen, weil mit einem Mal ein Leben zerstört ist. Wer so Schlimmes erfahren hat, kann nicht einfach so weitermachen wie bisher. Es gibt Menschen, die finden nach einem solchen Schicksalsschlag nicht mehr zurück ins Leben.

Junge Menschen fahren mit ihrem Auto auf einer Landstraße. Eigentlich ist es eine ganz schlichte Fahrt, eben mal zum Pizzaholen. Doch dann kommt mit hoher Geschwindigkeit ein Fahrzeug entgegen. Irgendwelche Verrückten leisten sich ein Straßenrennen. Es kommt zum Zusammenprall. Zwei der jungen Menschen sind tot, eine schwerverletzt. Für die Angehörigen, die Eltern, die Verwandten, die Freunde und Bekannten ist es ein Schock. Die Zeit steht still. Der Schmerz ist immens.

Julie Nicolson war Pastorin in Bristol. Ihr Leben veränderte sich von heute auf morgen, als am 5. Juli 2005 in London Bomben explodierten. Unter den Toten der Anschläge war ihre Tochter. Dieses Ereignis veränderte ihr Leben komplett. Weil sie dem Attentäter nicht vergeben konnte, legte sie ihr Amt als Pastorin nieder. In der Folge zerbrach ihre Familie. Der Schicksalsschlag hinterlässt Leid, Schmerz, Zerstörung, Unfrieden und Chaos.

Wie kann  man so noch weiterleben? Wir können unzählige Beispiele anführen, wo Menschen großes Leid erfahren und aus der Bahn  geworfen werden. Das bis dahin so gut eingerichtete Leben ist unvermittelt in eine dramatische Krise geraten.

Und immer wieder taucht eine Frage auf: Warum? Warum musste das geschehen? Warum musste das sein? Warum gerade ich? Immer wieder, im  Großen und im Kleinen spielen sich diese Dramen im Leben von uns Menschen ab. Und manch ein Mensch zerbricht an dieser Frage nach dem Warum wie Julie Nicolson.

Wenn Gott ein liebender, gerechter Gott sein soll, warum lässt er das zu? Warum lässt Gott mich und andere so leiden? Ist das denn gerecht? Immer wieder habe ich an Krankenbetten vernommen: Ich habe doch nichts Böses getan. Warum werde gerade ich so bestraft?

Es ist die Frage eines Menschen in Leid und Not. Es ist die Frage eines Menschen, der sich von Gott verlassen fühlt, weil sein ganzes Leben nur noch vom Zerbrechen alles Vertrauten geprägt ist. „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ Jesus greift am Kreuz den Psalm 22 auf und betet ihn. Da ist es wieder, das kleine Wort „warum“. Mit ihm verbindet sich das gravierende Empfinden von Menschen in tiefgreifenden Krisen. Und da helfen keine schnell daher gesagten Worte. Da helfen nicht gute Theorien. Da müssen wir erst einmal still werden.

Die Bibel kennt die Problematik. Hier werden diese Fragen aufgegriffen, die sich mit der Frage nach dem Warum verbinden. Hier kommen die Schmerzen und das Leid von uns Menschen in den Blick. Im Buch Hiob wird uns ein frommer Mann vor Augen geführt, der ein gutes Leben hat. Er ist gläubig, vertraut auf Gott, hat eine große Familie und Herden von Tieren. Das ist sein Reichtum. Er kann das Leben genießen. Denn scheinbar gelingt ihm alles. Und man kann den Eindruck haben, dass sein gutes Leben auch eine Folge seines Glaubens ist. Wer glaubt, der hat Erfolg. Wer glaubt, dem geht es gut. Doch diese Gleichung geht nicht auf. Eines Tages, aus heiterem Himmel bricht über Hiob das Unglück herein. Er verliert seine Kinder, seinen Besitz und schließlich wird er selber schwer krank. Nur noch Haut und Knochen ist er. Und wir können uns vorstellen, dass er schwer getroffen ist von seinen Schicksalsschlägen. Seine Welt ist zusammengebrochen.

Und wer am Boden liegt, wer nicht mehr weiter weiß, der empfindet es normalerweise als hilfreich, wenn sich andere Menschen um einen kümmern, wenn man nicht allein gelassen wird. Man könnte sagen, Hiob hat Glück. Er hat Freunde, die ihn besuchen, denen sein Unglück nicht egal ist. Doch diese Freunde machen nun etwas, was unsensibel ist. Offenbar halten sie es selber nicht aus, still zu bleiben. Sie meinen, etwas sagen zu müssen, mit guten Ratschlägen sich einbringen zu müssen. Doch diese Freunde bleiben nur an dem einen hängen, an dem Hiob bereits nicht weitergekommen ist, an der Frage nach dem Warum. Es muss doch einen Grund geben für das Leid des Hiob. Und dieser Grund kann nur darin liegen, dass mit seinem Glauben etwas nicht stimmt. „Du musst doch irgendwo gesündigt haben! Überprüfe Dein Leben, Hiob! Und kehr um!“ Doch mit diesen Gedanken, mit diesem Bohren in den seelischen Wunden des Hiob machen sie es noch viel schlimmer. Und vor allem: Sie bringen Hiob nicht weiter. Denn die Frage nach dem Warum ist rückwärtsgewandt. Sicher, sie kann helfen, um Blockaden und Ängste zu lösen. Aber das hat auch seine Grenzen. Nicht immer ergibt sich ein direkter Zusammenhang zwischen dem eigenen Handeln und dem Ergehen. Immer wieder muss diese Frage offen bleiben. Warum ein Mensch leiden muss, das kann oft nicht einfach beantwortet werden.

Deshalb ist ein Wechsel der Blickrichtung von Bedeutung. An die Stelle des rückwärtsgewandten Warum tritt die Frage nach dem zukunftsweisenden Wozu. Und auch diese Frage lässt uns manchmal sprachlos zurück. Wer mitten in einer Krise steht, kann oft diesen Blick nach vorne nicht finden. Und dennoch ist es wichtig, dass sich allmählich der Horizont lichtet, dass wieder mehr Licht in das Leben kommt, dass es eine Perspektive gibt, die herausführt aus den Beklemmungen des Schicksals und befreit zu einem neuen Leben.

Hiobs Freunde - so gut sie es auch meinen mögen - quälen ihn letztlich nur. Mit diesem Suchen nach Ursachen löst sich für Hiob das Problem nicht. Deshalb empfindet er die Begleitung durch die Freunde mehr als zusätzliche Schläge. Doch noch mehr fühlt sich Hiob von Gott geschlagen. „Warum verfolgt ihr mich, wie Gott es tut?“, klagt er.

„Gott schlägt mich!“ Was ist das für ein Gott! Muss ich das alles aushalten? Muss ich mir das antun? Soll ich überhaupt bei diesem Gott bleiben, der es scheinbar so böse mit mir meint? Hiobs Frau greift diese Frage auf. Sie sieht das ganze Unglück ihres Mannes. Und sicherlich ist sie selber auch tief von den Schicksalsschlägen in der Familie getroffen. Für sie macht es keinen Sinn mehr, sich auf diesen Gott einzulassen. Er hat alles Vertrauen verspielt. Deshalb fordert sie ihren Mann auf: „Lass doch ab von diesem Gott! Lass ab und stirb!“ Der Tod als einzige bleibende Zuflucht. Wir haben vergeblich auf diesen Gott gehofft. Es gibt nur noch einen Weg, um aus diesem Dilemma herauszukommen: der Tod. Doch was ist das für eine Perspektive? Ja, das Leiden hat dadurch ein Ende. Und dann? Ist das alles, was über dem Sinn des Lebens steht?

Hiob sehnt sich danach, dass alle seine Reden und Worte in Stein gemeißelt werden. Und wir fragen uns, welche Worte er meint und zu welchem Zweck das geschehen soll. Ich vermute, dass wir hier an einer ganz entscheidenden Stelle im Leben des Hiob stehen. Es wird uns zwar nicht gesagt, worauf er selber hier wert legt, aber er möchte eine Botschaft an all die Menschen weitergeben, die wie er leiden und Schweres zu tragen haben. Hiobs Worte wollen ein Ratgeber in Zeiten der Not sein. Und somit stehen wir an einem Wendepunkt im Leiden des Hiob. Zu seinen Worten gehören mit Sicherheit seine Klagen, seine Ratlosigkeit angesichts des Leides, das ihn getroffen hat. Aber seine Worte markieren auch den entscheidenden Wendepunkt. So wie der Psalm 22 nicht bei dem „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ stehen bleibt, sondern eine Wendung erfährt, so rückt nun Hiobs Festhalten an Gott in den Blick.

Wir können in Krisen geraten, in denen wir Gott nicht verstehen. Wir können das Gefühl in uns tragen, dass Gott uns allein gelassen hat, dass er fern von uns ist. Wir können den Eindruck haben, dass Gott uns nicht weiterführt. Doch Hiob zeigt uns, wie er trotz aller Ratlosigkeit an Gott festhält. Es mag irritierend sein, aber Hiob hofft gegen Gott auf Gott. Er hofft gerade auf Gott, obwohl er von Gott enttäuscht ist, obwohl er ihn nicht versteht, obwohl er die Kälte Gottes zu verspüren meint, die Ferne Gottes. Hiob hofft wider den Augenschein auf Gott.

Und darin kann Hiob uns ein Vorbild sein. Hiob pflegt die Beziehung zu Gott. Er will sie nicht abreißen lassen. Er wendet sich immer wieder im Gebet an Gott, klagt ihm auch sein Leid. Wenn es für ihn einen Halt im Leben gibt, dann ist es Gott allein. Und Hiob bekennt: „Mein Erlöser lebt.“ Das sind bemerkenswerte Worte. Über allem Leiden steht für ihn der Gott, der erlöst, der frei macht, der befreit und Zuversicht und Zukunft schenkt. Alles ist vergänglich auf dieser Erde. Alles hat seine Grenzen, aber das letzte Wort hat dieser Gott, auf den er traut. Und deshalb trägt Hiob eine tiefe Sehnsucht in sich: Ich werde Gott schauen. Ich werde ihm begegnen, und zwar nicht als den abwesenden, kalten und zornigen und fremden Gott, sondern als dem Gott, der frei macht, aufrichtet und Recht schafft.

Judica: Schaffe mir Recht, Gott! Dieser Sonntag drückt das innige Flehen von uns Menschen aus, wenn wir schwer zu tragen haben. Für Christinnen und Christen wird dieses Recht, das Gott uns schafft, deutlich in der Passion Jesu. Denn hier geht Gott in Christus selber den Weg der Leiden und Schmerzen. Er nimmt all das Leid und Unrecht, all das, was belastet und bedrückt, auf sich. Er trägt die Leiden und die Schmach dieser Welt bis ans Kreuz. Doch hier bleibt es nicht beim „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ - „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt.“ Hiobs Bekenntnis lässt ein Stück von Ostern aufleuchten. Der Tod hat nicht das letzte Wort. „Christ ist erstanden“ wird es wieder zu Ostern heißen. Gott schafft neues Leben. Er begegnet uns nicht als Fremder, sondern er ist der Liebende, der uns Zukunft eröffnet über alles Leiden und Sterben hinaus.

Trotzdem bleibt die Frage nach dem Leid. Wenn wir uns diesem uns liebenden Gott anvertrauen, wieso muss es erst Leid und Schmerz geben? Hiob findet aus seiner Depression, seiner Klage und seinem Leid heraus, weil er die Größe Gottes erkennt. Seine Begegnung am Ende des Hiobbuches führt uns eine andere Qualität der Gottverbundenheit vor Augen: „Ich hatte von Dir nur vom Hörensagen vernommen, aber nun haben meine Augen Dich gesehen.“ Das bekennt Hiob. Was ist hier geschehen? Hier hat es keinen großen Knall gegeben. Hier ist nicht das Gefüge der Welt auf den Kopf gestellt worden. Es ist vielmehr ein anderer Blick auf alles. Hiob erkennt, dass die Frage nach dem Warum für ihn zu groß ist. Gott hat eine Welt geschaffen, uns aber dabei auch gewisse Freiheiten gelassen. Insofern ist diese Welt auch unvollkommen. So kann es zu Leid kommen. Aber über allem steht der lebendige Gott, der uns liebt und erlöst, der uns Zukunft eröffnet auch über diese Welt hinaus. Für Menschen, die von Schicksalsschlägen getroffen sind, mag das auf den ersten Blick nicht reichen. Sie schauen auf das, was ihnen widerfahren ist und was schmerzt. Doch Gott möchte uns nicht den Weg in die Suche nach Schuld und Ursache führen, wie es die Freunde Hiobs taten, sondern den Blick aufrichten. Gegen alles, was gegen Gott spricht, lasst uns gerade auf Gott schauen. Denn unser Erlöser lebt. Er kommt uns als Freund entgegen, als der wahre Freund. Und er will uns bei der Hand nehmen und uns führen, so dass wir bestehen können. Er selber ist uns nah auf dem Weg der Passion, um uns zum Leben zu führen.

Ihr Pfarrer Carsten Klingenberg