21.02.2021 1. Sonntag der Passionszeit – Invocavit

21.02.2021 1. Sonntag der Passionszeit – Invocavit



Predigt: Johannes 13:21-30 (HFA)
21 Nachdem Jesus dies gesagt hatte, bestätigte er tief erschüttert: »Ja, es ist wahr: Einer von euch wird mich verraten!« 22 Die Jünger sahen sich fragend an und rätselten, wen er meinte. 23 Ganz nah bei Jesus hatte der Jünger seinen Platz, den Jesus sehr lieb hatte. 24 Simon Petrus gab ihm ein Zeichen; er sollte Jesus fragen, wen er gemeint hatte. 25 Da beugte der Jünger sich zu Jesus hinüber und fragte: »Herr, wer von uns ist es?« 26 Jesus antwortete ihm: »Es ist der, dem ich das Stück Brot geben werde, das ich jetzt in die Schüssel eintauche.« Darauf tauchte er das Brot ein und gab es Judas, dem Sohn von Simon Iskariot. 27 Sobald Judas das Brot genommen hatte, bekam Satan ihn ganz in seine Gewalt. »Beeil dich und erledige bald, was du tun willst!«, forderte Jesus ihn auf. 28 Keiner von den anderen am Tisch verstand, was Jesus mit diesen Worten meinte. 29 Manche dachten, Jesus hätte Judas hinausgeschickt, um alles Nötige für das Fest einzukaufen oder den Armen etwas zu geben. Denn Judas verwaltete das Geld von Jesus und seinen Jüngern. 30 Nachdem Judas das Brot genommen hatte, eilte er hinaus. Es war Nacht.


Liebe Mitchristinnen und Mitchristen!

„Es war Nacht.“ Diese schlichte und so aussagekräftige Feststellung steht am Ende unseres Abschnitts. „Es war Nacht.“ Bei diesen Worten schwingt einiges mit, einiges, was uns still werden lässt. „Es war Nacht.“ Das klingt nach einem schrecklichen Ereignis. Und mit einem Mal verstummt alles Leben. Und in der Tat waren die Freunde Jesu zutiefst verstört. Eben noch hatte Jesus etwas Außergewöhnliches getan. Sie hatten eine Wegstrecke zurückgelegt und versammelten sich nun  in einem Haus. Normalerweise war es üblich, dass die Sklaven oder die Hausangestellten diesen Dienst übernahmen, den Gästen nach einer Wegstrecke auf staubiger Straße die Füße zu waschen. Schließlich sollte kein Gast schmutzig im Hause sein müssen. Doch hier war es anders gewesen: Der Meister hatte seinen Schülern die Füße gewaschen. Der Meister hat sich selbst zum Diener gemacht. So verwirrend das für die Freunde Jesu gewesen sein mag, es war dennoch ein beeindruckendes Erlebnis, ein Akt besonderer Wertschätzung. Doch Jesus hatte auch verwirrende Worte angefügt. Er kündigte an, dass er verraten wird. Und das hat sicherlich dazu beigetragen, dass die Stimmung verdunkelt wurde. Doch nun bleibt es nicht nur bei einer Ankündigung. Nun wird es auch sehr konkret. So schnell können sich die erhebenden und bewegenden Momente verwandeln in Augenblicke der Schockstarre. Und mit einem Mal ist es Nacht.

Jesus sitzt mit seinen Freunden zu Tisch. Normalerweise ist das eine beglückende Situation der Gemeinschaft. Doch an diesem Punkt wird diese Gemeinschaft erschüttert. Jesus bekräftigt noch einmal, dass einer zum Verräter werden wird. Und dann geschieht etwas Bemerkenswertes. Die Blicke richten sich nicht auf eine bestimmte Person. Im Gegenteil: Alle werden von einem großen Schrecken erfasst. „Bin ich’s?“, fragen sie. Das mag erstaunlich klingen.

Wie reagieren wir, wenn in unseren Kreisen jemand sagt: „Einer ist dafür verantwortlich!“ Dann denken die einen: Ich bin damit jetzt nicht gemeint. Andere ducken sich weg, als ob die Aussage mit ihnen nichts zu tun hat. Manch einer, der verantwortlich sein könnte, bleibt ganz cool und geht einfach darüber hinweg. Es ist eher ungewöhnlich, dass sich jemand gleich als schuldig bekennt.
Ja, es ist unangenehm, wenn da ein ausgestreckter Zeigefinger zu sehen oder zu spüren ist. Du bist verantwortlich! Solche Situationen mögen wir nicht. Wir scheuen sie. Wir haben Angst davor. Keiner möchte gerne der Schuldige sein.

Dennoch sind alle Jünger tief bestürzt und fragen sich: „Bin ich’s?“ Offenbar können sich wohl alle es vorstellen, dass sie schwach werden und einen großen Fehler begehen.

Mir fällt dabei eine Situation in der Schule ein. Wenn eine Lehrkraft eine Klassenarbeit zurückgibt, dann wird im Vorfeld oft die Verteilung der Noten dargestellt. Stellen wir uns vor, die Lehrkraft sagt: Es gab leider eine 6. Wie viele Schülerinnen und Schüler zucken innerlich zusammen und fragen sich ängstlich: „Bin ich’s?“ Da mag man noch so gut gelernt haben. Da mag man vielleicht während der Arbeit ein noch so positives Gefühl gehabt haben. Aber im Bereich des Möglichen ist es immer wieder, dass man mal voll daneben liegt. Und da kann der Schrecken groß sein.

Wir alle müssen bekennen, dass wir versagen können, dass uns etwas misslingt, dass wir uns zu Aktionen hinziehen lassen, von denen wir im Nachhinein sagen: Das war falsch.

„Bin ich‘s?“ Diese Frage haben die Freunde Jesu voll Schrecken herausgebracht. Und wir? Wir schauen uns diese Situation heute aus einer anderen Perspektive an. Wir stehen zweitausend Jahre später. Wir wissen, wie es damals ausgegangen ist. Wir können uns gelassen zurücklehnen und die ganze Begebenheit wie einen Kinofilm betrachten. Oder etwa nicht? Könnte es vielleicht sein, dass dieses Ereignis von damals etwas mit uns und unserem Leben zu tun hat? Könnte es vielleicht sein, dass auch wir heute zu Verrätern werden können? Könnte es sein, dass wir ebenfalls uns wie die Jünger fragen: „Bin ich’s?“

Dass sich die Freunde Jesu so erschrocken gefragt haben, ob sie es sind, hat durchaus seinen Grund. Es ist eben nicht nur Judas, der hier vom Weg abkommt. Auch ein Petrus wird wenig später Jesus drei Mal verleugnen. Und dann werden sie sich alle ganz heimlich, still und leise aus dem Staub machen, wenn’s kritisch wird.

Und wir? Wie steht es um uns? Sind wir immer so standfest und treu in allen Lebenslagen? Wir haben gehört: Jesus war tief erschüttert, als er noch einmal ankündigt, dass einer seiner Freunde ihn verraten wird. Und auch als Petrus ihn verleugnet, da ist er tief bewegt. Der traurige Blick, den Petrus trifft, drückt die ganze Enttäuschung aus. Vielleicht kennen auch wir die enttäuschten Blicke anderer, wenn wir ihre Erwartungen nicht erfüllt haben. Oder auch umgekehrt: Wenn uns jemand sehr enttäuscht hat, uns allein gelassen hat, dann drückt auch unser Gesicht die Gefühle unseres Herzens aus.

Es war Nacht. Verrat lässt die Stimmung kippen. Es wird finster und still. Satan hatte den Judas ergriffen. Das klingt bedrohlich und zugleich befremdlich. Doch was mag das bedeuten? Vielleicht ist es nicht mehr die Sprache unserer Zeit. Aber wir können sagen, dass Judas nicht mehr Herr seiner selbst war. Besessen von einer fixen Idee ließ er alles andere außer Acht. Judas brach auf vom gemeinsamen Mahl. Er stürzte hinaus in die Nacht, um dem irrsinnigen Geschehen freien Lauf zu lassen. Aber, was hat ihn da so geritten? Und wie konnte Jesus auf einen solchen Menschen hereinfallen? Was dem Judas durch den Kopf ging, und wovon er so besessen war, wissen wir nicht hundertprozentig. Aber sein Handeln muss gar nicht einmal gegen Jesus gerichtet gewesen sein. Nehmen wir einmal an, Judas war ein Zelot, so war er ein tief religiöser Mensch, der auf den Messias wartete. Doch die Zeloten hatten die Vorstellung, dass der Messias mit Gewalt kommen würde. Man muss erst einmal anfangen zu kämpfen, dann wird der Messias mitten unter den Kämpfern erscheinen und mit einem Schlag die verhassten Römer aus dem Land vertreiben und Befreiung schenken. So war Judas davon überzeugt, dass Jesus der Messias ist, sich aber noch nicht als solcher gezeigt hat. Und nun war der Zeitpunkt gekommen, dass Judas – besessen von seiner fixen Idee – die Wahrheit herausfordern wollte. Er wollte Jesus in eine Situation bringen, in der er sich dann als der wahre Messias zeigen musste. Und  das konnte nur eine Konstellation sein, bei der Jesus sein friedliches Wesen aufgeben würde und mit göttlicher Macht dreinschlagen müsste. Fanatisch und besessen von diesen Gedanken zieht Judas los.

Und auch hier stehen wir vor einem Phänomen, das uns in unserem Alltag erfassen kann. Wir sind erfasst von einer Idee, von Gedanken, die uns so einleuchtend erscheinen. Und wir meinen, dass das nun so sein müsste. Und vor lauter Verbissenheit verlieren wir den Blick für die anderen Aspekte, die auch da sind. Und so übersehen wir, wie manches durch unser Verhalten zu Bruch geht. Und erst, wenn es dann zu spät ist, stehen wir vor dem Scherbenhaufen unseres Denkens und Handelns. Dann spüren wir: Es ist Nacht.

Die anderen Freunde Jesu im Raum verstehen nicht recht, was hier eigentlich vor sich geht. Eben waren sie noch ganz verstört und fragten sich, ob sie es sind, die den großen Fehler machen. Dann sehen sie Judas hinausstürzen. Doch irgendwie bringen sie all das, was da gerade geschieht nicht auf die Reihe. Ihre Gedanken gehen in eine ganz andere Richtung. Sie denken, dass Judas noch etwas besorgen soll. Aber sie verstehen nicht, dass das Thema „Verrat“ immer noch aktuell ist.

Auch wir stehen vielleicht mit großem Fragezeichen vor den Augen da. Wir fragen uns: Was hat das zu bedeuten? Was geht hier vor? Musste das wirklich alles so kommen? Hätte es nicht auch anders sein können? Hätte Jesus nicht Judas zurückhalten können? Vieles ist nicht leicht zu verstehen. Manches scheint uns auch befremdlich. Aber auch die Freunde Jesu verstanden erst später, was hier vor sich ging.

Was aber können wir aus dieser Begebenheit mitnehmen für uns? Was können wir machen, wenn wir den Durchblick für eine Situation verlieren, wenn alles für uns zu verwirrend ist?

Um das Erschrecken der Jünger kommen wir nicht herum. Es gehört zu der erschreckenden und nüchternen Realität, dass wir Menschen uns zu Dingen hinreißen lassen können, die nicht gut sind. Wir können scheitern. Wir können verraten. Und dann stehen wir vor unserem ganz persönlichen Scherbenhaufen. Die Jünger zeigen uns die Bandbreite auf, wie wir uns verhalten können. Judas verlässt den Saal. Er entfernt sich. Er sucht das Weite. Er stürzt in die Nacht, in die Nacht der Trostlosigkeit, der Verzweiflung, in die Nacht mit ihrer Kälte. Petrus dagegen sucht in seiner Verstörung einen anderen Jünger, der ihm behilflich sein kann, klarer zu sehen und sich wieder zu fangen. Und dieser Jünger, der „Lieblingsjünger“, ist der Jünger, der ganz nah bei Jesus ist, der seine Nähe sucht und Antwort erwartet.

Wir können es in den Krisen unseres Lebens machen wie Judas. Wir können von Jesus wegstürzen, gefangen im Wahn, das herbeizuzwingen, was unserer Meinung nach zum Heil führt. Wir können es wie Petrus machen, uns einem anderen Christen oder einer anderen Christin anvertrauen und um Klärung für uns bitten. Oder wir können uns ganz nah bei Jesus halten und von ihm direkt Geborgenheit und Frieden empfangen. Es geht also um unsere Herzenshaltung. Wie stehen wir zu Jesus? Wie sehr vertrauen wir uns ihm an?

Dabei fällt noch das eine auf: Jesus ist mit all seinen Freunden versammelt. Und er isst mit ihnen. Sie haben Tischgemeinschaft. Und sie haben alle Teil. Jesus nimmt sogar einen Bissen Brot, taucht ihn ein in die Soße und reicht ihn dem Judas. Selbst er hat einen Platz in der Gemeinschaft und er hat Anteil an dem, was Jesus schenkt. Die Frage ist nur, was er daraus macht.

Es ist erschütternd, später zu lesen, dass Judas seinen Fehler erkennt. Er wacht auf aus seinem Wahn. Doch da ist es schon zu spät. Reumütig bringt er das Geld, das er für den Verrat bekommen hat, zurück. Er will es nicht mehr haben. Doch das Fatale ist, dass er nicht nur das Geld, sondern auch sein Leben wegwirft. Es war Nacht.

Der Weg, den Judas eingeschlagen hatte, führte in die Nacht. Am Karfreitag wurde es finster über Golgatha. Doch die Hoffnung, die uns bleibt, ist, dass die Nacht auch ein Ende hatte. Und dieses Ende wirkt bis in unsere Zeit. Wo auch immer wir scheitern, wo auch immer wir versagen, wo auch immer uns der ausgestreckte Zeigefinger trifft und im Innersten schreckt, wir dürfen wissen: Es wird nicht dunkel bleiben, wenn wir umkehren, wenn wir uns – wie der Lieblingsjünger – Jesus nahen, unsere Fragen bringen und Frieden als Antwort erfahren. Denn Jesus möchte unser Leben verändern. Er möchte uns aus der Nacht der Schuld führen und befreien zu einem Leben im Licht des neuen Tages. Es ist müßig, über Judas zu urteilen. Was Jesus über ihn denkt, wissen wir nicht. Uns will sein Schicksal aber warnen, dass wir uns nicht gefangen nehmen lassen von fixen Ideen. Vertrauen wir uns Jesus an, so werden wir auch auf schwierigen Wegstrecken Geborgenheit und Frieden finden können.

Ihr Pfarrer Carsten Klingenberg