02.04.2021 Karfreitag – Todesstunde

02.04.2021 Karfreitag – Todesstunde



Predigt: Lukas 23:34

Jesus aber sprach: Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun!

Liebe Mitchristinnen und Mitchristen!

Auf dem Weg durch die Karwoche sind wir an einer besonderen Station angelangt. In der Todesstunde konzentrieren sich alle Blick auf das Kreuz. Es ist wahrlich kein schöner Anblick. Und doch liegt in diesem Augenblick so unwahrscheinlich viel Entscheidendes. Dramaturgisch braut sich einiges zusammen. Der Himmel verfinstert sich. Es wird ungemütlich dort draußen auf Golgatha. Und der eine, der an dem Kreuz in der Mitte hängt, scheidet aus diesem Leben.

Stille macht sich breit. Immer wenn ein Mensch aus dem Leben scheidet, dann entsteht eine eigentümliche Stille. Es ist, als ob die Welt stillsteht. Es braucht dann erst einmal wieder einige Momente, bis die Umstehenden zu sich finden und wieder Gedanken fassen können. Doch eines ist klar: Es kann so nicht weiter gehen, wie bisher.

Am Karfreitag ist es dunkel und still geworden rund um das Kreuz. Vielleicht klangen die Worte des Verstorbenen bei dem einen oder anderen noch nach, der in der Nähe stand. Und in der Tat waren es bemerkenswerte Worte, diese letzten Worte Jesu am Kreuz, die sich mit der Todesstunde verbinden.

In diesem Jahr blicken wir auf einen Satz, den Jesus am Kreuz ausspricht: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Das ist ein recht kurzer Satz. Und zugleich enthält er so viele Aspekte.

Jesus befindet sich in einer aussichtslosen Lage. Er hängt am Kreuz, ist geschunden und geschwächt. Ihm fehlt es an Kraft. Er muss unermessliche Pein ertragen. Allein gelassen von allen Menschen und guten Geistern, ja selbst von Gott, betet er den Psalm 22: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ Und dennoch wendet er sich gerade an diesen Gott, an den Vater, von dem er sich verlassen fühlt, und ruft ihn an, lässt ihm seine Bitte zukommen.

Doch es ist keine Bitte, die um Rettung von diesen Qualen bittet. Es ist kein Ruf nach Erlösung von den Qualen. Es ist vielmehr ein Ansinnen, das andere Menschen in den Blick nimmt. Und dabei ist bemerkenswert, dass Jesus für Menschen betet, die ihm feindlich gesonnen sind. Jesus hätte nun allen Grund dazu, die Menschen, die ihn ans Kreuz gebracht haben, zu verfluchen, ihnen alle möglichen Höllenstrafen anzuwünschen. Doch davon hören wir nichts. Auch wenn sich Jesus mit seinen Worten, seinem Gebet an Gott, den Vater wendet, geht es ihn gerade um diese Menschen, die ihm Böses wollen, die ihm nach dem Leben trachten, die ihn aus dem Weg räumen wollten. Es wäre durchaus nachvollziehbar, wenn er sich von ihnen abwenden würde mit deutlichen Worten und großem Geschimpfe. Doch stattdessen spricht Jesus Worte, die die Türen keineswegs zuschlagen. Vielmehr ermöglicht er auch seinen Feinden noch eine Chance.

„Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Was sind das für Worte! Da musste Jesus erleben, wie ihn einer seiner Freunde verraten hat, wie ihm der blanke Hass der Meute entgegenschlägt, wie er nur Ablehnung erfährt und schließlich wie ein Stück Müll zum Müllplatz von Jerusalem weggeschafft wird, hinaus nach Golgatha. „Dich wollen wir nicht mehr! Also weg mit Dir!“ Unfassbar, was Jesus da ertragen und aushalten musste. Und dann auch noch die Gewalt, die ihm entgegenschlägt.

Man hatte versucht, Jesus schuldig zu sprechen. Doch welche Schuld konnte man ihm anrechnen? Gotteslästerung führten die einen an. Pilatus ließ das Schild mit der Inschrift INRI anbringen. Für Römer war er somit ein politischer Gegner. Aber das war mehr eine Verlegenheitslösung, deren sich Pilatus bediente. Er fand eigentlich keine Schuld an Jesus. Er wusch seine Hände in Unschuld. Doch ob er sich dadurch selber so einfach der Schuldfrage entziehen konnte? Die Schuld liegt aber vor allem bei den Menschen, die unbedingt den Tod Jesu herbeizwingen wollten. Ihr Hass, ihre Verbohrtheit, ihre Lieblosigkeit sind massiver Ausdruck ihrer Schuld. Sie sind an Jesu Tod schuldig geworden.

Und doch können wir nicht einfach nur auf diese Menschen mit dem Finger zeigen und sagen: Das sind die wahren Schuldigen. Denn die Schuldfrage betrifft alle Menschen immer wieder. Das wollen wir zwar nicht gerne hören. Doch es kommt so leicht dazu, dass das wir als Menschen in irgendeiner Sache schuldig werden. Letztlich geschieht das immer wieder, wenn es zu Konflikten und Spannungen zwischen Menschen kommt. Und dann ist die Schuldfrage bei weitem nicht so einfach zu klären. Wir haben Gerichte, die dafür zuständig sind, sich um die Frage der Schuld zu kümmern. Und auch wenn Gerichte einen Schuldspruch fällen, dann heißt das noch lange nicht, dass die andere Seite vollkommen frei von Schuld ist. Schuld, so ist die nüchterne Sicht der Bibel, betrifft uns alle. Doch wenn wir alle schuldig sind, dann stellt sich die Frage, ob wir überhaupt eine Chance haben. Müssen wir dann nicht alle aufgeben? Können wir dann nicht einpacken und müssen sagen: „Das war’s. Ich bin schuldig. Mein Leben hat keinen Sinn mehr.“?

Das klingt hart. Aber so ist es im Prinzip. Jesu Worte am Kreuz desillusionieren uns. Wir können uns nicht rausreden. Aber Jesus ist nicht unbarmherzig. Selbst dort, wo Menschen an ihrer Schuld scheitern und resignieren, verzweifeln und nicht mehr weiter wissen, selbst dort eröffnet er eine Perspektive. Und diese Perspektive finden wir am Kreuz von Golgatha. All unsere Schuld, all das, was uns belastet, dürfen wir auf ihn legen. Hier bringen wir es zum Müllplatz unseres Lebens. Bei Jesus ist unser Schuttabladen erlaubt. Sein Ziel ist es, uns Menschen zu befreien. Er gibt sein Leben, damit wir frei werden.

Und dahin gehört nun das große Stichwort: Vergebung! „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Diese Bitte möchte uns und unser Leben entlasten, frei machen. Es gibt sogar dem übelsten Gegner Jesu noch eine Möglichkeit der Umkehr. Vergebung! Das bedeutet: All das, was an Schuld auf einem Menschen liegt, das kann von ihm genommen werden. Die Schuld wird durch Jesu Hingabe am Kreuz ausgeglichen. Vergebung bedeutet, dass es auf Dauer von uns weggegeben wird, unser Leben nicht mehr tangiert. In der Bitte Jesu am Kreuz spiegelt sich auch die Vaterunser-Bitte wider, die Jesus uns zu beten gelehrt hatte. „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern!“ Hier wird uns nun bewusst, dass Vergebung auch etwas Gegenseitiges ist. Es geht um die Beziehung, in der zwei Personen zu einander stehen. Und es geht um die Beziehung, in der wir zu Gott stehen. Vergebung möchte unsere Beziehungen wieder in Einklang bringen. Sie möchte befreien, so dass man wieder freudig aufeinander zugehen kann.

Die Befreiung drückt sich vor allem auch dadurch aus, dass man nicht mehr dem anderen etwas nachtragen muss. Das macht ja bereits deutlich, dass die Last dennoch bei einem selber liegt. Von daher ist das Leben aus der Vergebung heraus ein befreites Leben, ein Leben, das aufatmen lässt.

Jesu Worte am Kreuz: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“ ist ein Angebot der Befreiung und Entlastung. Diejenigen, die Jesus ans Kreuz gebracht haben, können letztlich kein ruhiges Gewissen haben. Selbst wenn sie in ihrem Leben schon so viel mit Blut zu tun hatten und abgestumpft sind, die Schuld lastet auf ihnen. Und das macht sie keineswegs glücklich.

Jesu Bitte am Kreuz bedeutet nun aber bei weitem nicht, dass für ihn alles in Ordnung ist. Vergebung heißt eben nicht: „Schwamm drüber! Das ist alles nicht so schlimm….“ Jesus verharmlost hier keineswegs. Er sagt auch nicht, dass er alles einfach nur erduldet und es letztlich egal wäre, was die Leute machen würden. Was geschehen ist, ist geschehen. Und wenn es nicht in Ordnung war, dann ist es auch nicht in Ordnung. Aber Jesus geht es um den Menschen, um jeden einzelnen. Er will in seiner Barmherzigkeit Befreiung von den Lasten schenken. Er gibt keinen Menschen auf.

Und das führt uns vor Augen, dass das im Prinzip für jeden gilt. Auch der schlimmste Machthaber, der mit grausamen Terror die Menschen in Schranken hält, hat noch eine Chance. Seine üblen Taten lassen sich nicht mehr rückgängig machen. Aber er hat die Möglichkeit zur Umkehr, zur Abkehr von seinem alten Weg und zur Hinkehr zu einem anderen Leben. Jesus gibt niemanden auf, auch nicht seine Feinde. Jesus gibt sich. Er gibt alles. Wir können und dürfen leben, weil er unsere Schuld trägt, weil er sie am Kreuz sterben lässt für uns.

Es wird finster in der Todesstunde, finster über Golgatha. Doch es wird nicht finster bleiben. Die Geschichte ist nicht aus für uns Menschen. Jesu Worte am Kreuz wollen uns helfen, frei zu werden. Seine Worte sind ein Aufruf an uns, an Dich und mich, die Vergebung konkret anzugehen, nicht nachtragend zu sein. Und wenn uns ein Mensch wahnsinnig auf den Geist geht, weil er in unseren Augen etwas getan hat, was nicht in Ordnung war, es bringt uns nichts, darauf immer wieder herumzureiten. Das macht die Sache für uns nur noch schlimmer. Jesu Bitte an den Vater lädt uns zugleich ein, unsere Beziehungen in Ordnung zu bringen, konkrete Schritte zu gehen, damit unser Leben eine neue Richtung bekommt, damit wir wieder aufblicken können, damit wir Befreiung von den Lasten des Lebens erfahren.

In der Todesstunde Jesu am Kreuz auf Golgatha geschieht enorm viel. Es ist gut, wenn wir uns ganz bewusst aufmachen zum Kreuz und dort die Lasten unseres Lebens abladen. Das, was wir nicht mehr gebrauchen können, das, was wir nicht mehr ertragen können, das können wir loswerden. Die Vergebungsbitte Jesu am Kreuz schenkt uns eine neue, eine andere Perspektive. Am Kreuz ist nicht das Ende. Hier beginnt unsere Zukunft. Hier beginnt unsere Freiheit. Und dafür dürfen wir dankbar sein.

Ihr Pfarrer Carsten Klingenberg